5.3.5 Lungenkrebs oder Kehlkopfkrebs in Verbindung mit Asbeststaublungenerkrankung (Asbestose), in Verbindung mit durch Asbeststaub verursachter Erkrankung der Pleura oder bei Nachweis der Einwirkung einer kumulativen Asbestfaserstaubdosis am Arbeitsplatz von mindestens 25 Asbestfaserjahren, BK Nr. 4104
Anmerkung: Bei entsprechender Exposition können 25 Asbestfaserjahre schon nach wenigen Monaten erreicht sein.
Fall: Sie waren als Isolierer gewerblich eingesetzt und erkranken an einem Lungenkrebs, ohne daß zugleich eine sogenannte Asbestose im Sinne einer Staublunge feststellbar ist. Neu ist an der Berufskrankheitenliste, daß Fälle von Lungenkrebs in Verbindung mit 25 sogenannter Asbestfaserjahre, die ab dem 01.04.1988 auftreten, berufsgenossenschaftlich entschädigt werden müssen. Sie weisen 60 sogenannter Asbestfaserjahre aus beruflicher Arbeit auf.
Gegen die Neuregelung, daß im Asbestlungenkrebsfall auf eine Staublunge verzichtet werden kann, wenn nur mindestens 25 Asbestfaserjahre vorliegen, haben sich die Berufsgenossenschaften jahrelang heftig gewehrt. Bis auf offenbar zwei dokumentierte Ausnahmen wurden Fälle dieser Art in der Vergangenheit berufsgenossenschaftlich vom Versicherungsschutz ausgenommen, obwohl es neue Erkenntnisse gab, daß die Asbeststaublunge und der Asbestkrebs zwei verschiedene Auswirkungen ein und derselben Ursache Asbest sind und diese nicht notwendig miteinander vergesellschaftet auftreten. Im gebildeten Fall müssen Sie nun das Glück haben, daß Ihr Lungenkrebs nach dem 31. März 1988 aufgetreten ist, weil ansonsten die Berufsgenossenschaft trotz der Neuregelung und Erweiterung der Berufskrankheitenliste um diese Fälle Ihnen gleichwohl einen Ablehnungsbescheid erteilen wird, und zwar aus Stichtagsgründen.
Tip: Legen Sie auf jeden Fall Widerspruch ein gegen eine berufsgenossenschaftliche Ablehnung. Für Erkrankungsfälle aus der Zeit vor dem Stichtag des 01. April 1988 gilt nach wie vor die Öffnungsklausel des § 551 II RVO (Berufskrankheit nach neuer Erkenntnis im Einzelfall). Berufen Sie sich auf die zwei bereits in Entschädigung befindlichen Präzedenzfälle, die in der Statistik zu
§ 551 II RVO dokumentiert sind.
Lassen Sie sich nicht durch Hinweise auf Rechtsprechung des Bundessozialgerichts ins „Boxhorn“ jagen, daß etwa im Falle der Erweiterung der Berufskrankheitenliste Fälle aus der Vorzeit nicht mehr nach § 551 II RVO entschädigt werden dürften. Diese Rechtsprechung ist so falsch, als würde ein Arzt Lunge und Niere verwechseln. Ein formelles Gesetz wie § 551 II RVO kann nicht durch die rechtlich schwächere Berufskrankheitenverordnung bzw. deren Erweiterung noch dazu rückwirkend außer kraft gesetzt werden.
Tip: Halten Sie also Ihren Rechtsbehelf auf jeden Fall aufrecht, und zwar bis zur Klärung dessen, daß die Rechtsprechung des BSG insofern nicht haltbar ist.
Selbst wenn Sie das „Glück“ haben, daß Ihr Lungenkrebs nach dem 31. März 1988 aufgetreten ist, können Sie bereits wie mancher andere im Besitz eines berufsgenossenschaftlichen Ablehnungsbescheides sein, weil die Änderungsverordnung erst im Dezember 1992 erlassen worden ist.
Tip: Stellen Sie auch in diesem Fall Entschädigungsantrag bei der Berufsgenossenschaft und Antrag auf Überprüfung. Berufen Sie sich auf § 6 Absatz 4 der Berufskrankheitenverordnung („Bindende Bescheide und rechtskräftige Entscheidungen stehen der Anerkennung als Berufskrankheit nicht entgegen.“)
Offenbar greifen die Berufsgenossenschaften nicht einmal die Neufälle ab 01.04.1988 von Amts wegen auf, wenn diese bereits abgelehnt waren. Es hängt derzeit vom Zufall ab, ob Fälle aus der Zeit ab 01.04.1988 entschädigt werden oder nicht. Schlimmer noch ist aber, daß Fälle aus der Vorzeit des 01.04.1988 augenscheinlich grundsätzlich abgelehnt werden, obwohl mindestens 25 sogenannter Asbestfaserjahre beim Asbestlungenkrebs erreicht sind. In einem solchen Fall können die Kinder des Versicherten noch minderjährig sein.
Wohlgemerkt: Die Fälle aus der Vorzeit des 01.04.1988 sind rechtlich nach § 551 II RVO entschädigungspflichtig, als Berufskrankheit nach neuer Erkenntnis im Einzelfall.
Sollten Sie bereits an dem Lungenkrebs verstorben sein, können Ihre Hinterbliebenen zunächst einmal Antrag auf Hinterbliebenenleistungen, insbesondere also auf Witwen- und Waisenrente, stellen. Ihre Ehefrau, die bis zum Schluß mit Ihnen im gleichen Haushalt gelebt und Sie gepflegt hat, hat gegebenenfalls noch die Möglichkeit, bei der Berufsgenossenschaft das Pflegegeld und die Lebzeitenrente zu beantragen.
Hinweis: War die Verletztenrente bindend abgelehnt, so kann insofern eine Zäsur eintreten, als auf den Überprüfungsantrag hin die Verletztenrente für die Lebzeiten des Versicherten längstens für 4 Jahre zurück gewährt wird, gerechnet vom Beginn des Jahres an, in welchem der Überprüfungsantrag gestellt wird.
Noch ein Hinweis zur sozialpolitischen Entwicklung der Erweiterung der Berufskrankheitenliste um die sogenannten 25 Asbestfaserjahre.
Hinweis: Der Gutachter, der es 1981 in Übereinstimmung mit der Internationalen Berufskrank-heitenliste der IAO, Genf, gewagt hatte, einen Fall des Asbestlungenkrebs zur berufsgenossenschaftlichen Entschädigung vorzuschlagen, ohne daß gleichzeitig eine Asbestose vorlag, geriet in die berufsgenossenschaftliche Schußlinie. Während dieser Experte bis zu diesem Zeitpunkt auf ein oder zwei Jahre mit Gutachten im Voraus belegt war, gingen in der Folgezeit die Gutachtenaufträge bis auf den Tagesstand zurück. Es ist nicht verwunderlich, daß dieser Sachverständige dann das Faserjahrmodell entwickelte.
Fall: Sie weisen nur 20 Asbestfaserjahre auf im Lungenkrebsfall nach beruflicher Asbesteinwirkung, weshalb die Berufsgenossenschaft prompt einen Ablehnungsbescheid erteilt.
Tip: Mißtrauen Sie der Richtigkeit der Faserjahrberechnung. In vielen Fällen muß sich die Berufsgenossenschaft zugunsten der Erkrankten korrigieren.
Streit besteht in der Bewertung von bestimmten Arbeitsvorgängen. Zum Beispiel wurden nach Angaben eines Technischen Aufsichtsbeamten beim Trennschleifen von Asbestzement früher 100 Millionen Asbestfasern pro Kubikmeter Atemluft freigesetzt. Einen Kubikmeter Atemluft ventilieren Sie in einer Stunde. Bei Prüfstandbedingungen ergab sich sogar der Wert von 500 Millionen Asbestfasern pro Kubikmeter Atemluft. Deshalb ist es nicht einzusehen, daß die Berufsgenossenschaft geringere Werte für die Praxis zugrunde legt, als ob man besenreine Verhältnisse zu rekonstruieren versuchte.
Frage: Woher aber kommt die Richtschnur oder das Ablehnungsmerkmal von mindestens 25 Asbestfaserjahren, d.h. woher kommt diese Zahl?
Antwort: Beim BMA in Bonn war man der Meinung, daß eine Verdoppelung des Risikos erforderlich wäre, will man die Berufskrankheitenliste erweitern.
Rechtlich findet sich in keinem Gesetz, daß ein Schaden erst dann zu entschädigen sein könnte, wenn das Risiko von dessen Eintritt verdoppelt wäre. Auch eine Risikosteigerung von 33 1/3 % etwa kann sehr wesentlich sein, weshalb dann auch mindere Faserjahrzahlen sehr wohl erheblich sein können, also 20 oder 15 Asbestfaserjahre, wie auch immer. Die Anlegung des Maßstabes der Verdoppelungsdosis bei der Setzung der Rechtsnorm erscheint als ein willkürlicher mathematischer Eingriff, der mit der praktischen Lebenserfahrung nicht in Einklang zu bringen ist und nun überdeutlich gegen die Kausalitätsnorm in der gesetzlichen Unfallversicherung verstößt, in dem Sinne, daß wesentliche Mitursächlichkeit der beruflichen Ursache ausreichend sein soll für den Versicherungsschutz. Hinsichtlich der Erweiterung der Berufskrankheitenliste um die Kehlkopfkrebsfälle nach Asbesteinwirkung muß kritisch angemerkt werden, warum diese nicht schon viel früher stattfand und warum ausgerechnet diese Erkrankung wiederum an Beweisregelungen geknüpft wird, die mit einer Kehlkopfkrebserkrankung wenig zu tun haben.
Tip: Haben Sie eine nennenswerte berufliche Asbestexposition zurückgelegt, legen Sie im Falle von Kehlkopfkrebs Widerspruch ein, wenn die Berufsgenossenschaft ablehnt.
Krebsfälle nach der Listennummer 4104 werden jährlich in der Zahl bis zu 2.000 gemeldet. Die neuen Rentenfälle liegen etwa bei 700 jährlich.**
** Die obigen rechtlichen Ausführungen stellen naturgemäß keine Rechtsberatung dar, sondern sollen lediglich als erste Information und Orientierung dienen. Dabei ist zu beachten, dass sich die Rechtslage auch jederzeit ändern kann und die obigen Ausführungen insofern nicht in jedem denkbaren Fall die jeweils aktuellste Rechtslage darstellen können.
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