Asbestose – Asbeststaublungenerkrankung oder durch Asbeststaub verursachte Erkrankung der Pleura
I. Vorkommen und Gefahrenquellen
Asbest ist ein Sammelbegriff für zwei Gruppen faserförmiger silikatischer Mineralien: die Serpentinasbeste und die Amphibolasbeste. Als Arbeitsstoff kommt meist Chrysotil (Weißasbest), ein Magnesiumsilikat mit geringem Eisenanteil aus der Gruppe der Schichtsilikate vor. Auf Chrysotil als wichtigsten Serpentinasbest entfallen etwa 90 % aller in der Welt gewonnenen und industriell verarbeiteten Asbeste. Die Gruppe der Amphibolasbeste hat einen Anteil von unter 10 % am Asbestweltverbrauch. Hierzu gehören das Natriumeisensilikat Krokydolith, der sog. Blauasbest, ferner das Magnesiumeisensilikat Amosit, der sog. Braunasbest sowie der Anthophyllit. In der Bundesrepublik Deutschland, welche Importland für Asbest ist, werden bzw. wurden aus Rohasbest zahlreiche Produkte hergestellt. Beispielhaft aufgeführt seien die Asbestzementindustrie, die Reibbelagindustrie, die Gummi-Asbest(IT)-Industrie, die Asbestpapier-, -pappen-, -dichtungs- und -filterindustrie, die Asbesttextilindustrie und die Asbestkunststoffindustrie. Seit etwa 1980 ist der Verbrauch von Asbest deutlich zurückgegangen und wird in den nächsten Jahren voraussichtlich auslaufen. Darüber hinaus werden bzw. wurden in den verschiedensten Gewerbezweigen asbesthaltige Produkte eingesetzt, z. B. bei bestimmten Tätigkeiten im Hoch- und Tiefbaugewerbe, Kraftfahrzeuggewerbe, Isoliergewerbe, im Lüftungs-, Klima-, Heizungs- sowie Fahrzeugbau. Wichtige Gefahrenquellen für das Einatmen von Asbeststaub sind bzw. waren insbesondere:
- Asbestaufbereitung. Hierbei wird in Kollergängen, Prall- oder Schlagmühlen entweder asbesthaltiges Muttergestein zerkleinert und/oder Rohasbest zu stärker aufgeschlossenen Fasern aufgelockert;
- Herstellung und Verarbeitung von Asbesttextilprodukten wie Garne, Zwirne, Bänder, Schnüre, Seile, Schläuche, Tücher, Packungen, Kleidung usw. Dabei kommen Tätigkeiten wie Abfüllen, Einwiegen, Mischen, Krempeln, Spinnen, Zwirnen, Flechten, Weben und Zuschneiden vor. Auch das Tragen unbeschichteter Asbestarbeitsschutzkleidung ist ggf. zu berücksichtigen;
- industrielle Herstellung und Bearbeitung von Asbestzementprodukten, speziell witterungsbeständiger Platten und Baumaterialien einschließlich vorgefertigter Formelemente, z. B. für Dacheindeckungen, Fassadenkonstruktionen, baulichen Brandschutz usw.;
- Bearbeitung und Reparatur der vorgenannten Asbestzementprodukte, z. B. Tätigkeiten wie Sägen, Bohren, Schleifen usw. im Baustoffhandel oder Bauhandwerk;
- industrielle Herstellung und Bearbeitung von asbesthaltigen Reibbelägen, speziell Kupplungs- und Bremsbelägen;
- Ersatz von solchen Reibbelägen, z. B. Tätigkeiten wie Überdrehen, Schleifen, Bohren, Fräsen von Bremsbelägen in Kfz-Reparaturwerkstätten usw.;
- Herstellung, Anwendung, Ausbesserung und Entsorgung von asbesthaltigen Spritzmassen zur Wärme-, Schall- und Feuerdämmung (Isolierung);
- Herstellung, Verarbeitung und Reparatur von säure- und hitzebeständigen Dichtungen, Packungen usw., z. B. im Leitungsbau der chemischen Industrie;
- Herstellung, Be- und Verarbeitung von Gummi-Asbest(IT)-Produkten;
- Herstellung, Be- und Verarbeitung asbesthaltiger Papiere, Pappen und Filzmaterialien;
- Verwendung von Asbest als Zusatz in der Herstellung von Anstrichstoffen, Fußbodenbelägen, Dichtungsmassen, Gummireifen, Thermoplasten, Kunststoffharzpreßmassen usw.;
- Entfernen, z. B. durch Abbrucharbeiten, Reparaturen usw. sowie Beseitigung der vorgenannten asbesthaltigen Produkte.
Außerdem enthalten verschiedene Minerale, z. B. Speckstein (Talkum), Gabbro, Diabas usw. geringe Asbestanteile, u. a. als Tremolit und Aktinolith. Sie können infolgedessen über eine Mischstaubexposition zu Asbestrisiken führen.
II. Pathophysiologie
Asbeststaub ist ein typisch faserförmiger Staub. Asbestfasern können bis zu submikroskopischer Feinheit aufspalten. Wenn sie eingeatmet werden, wirken sie u.a. fibroseerzeugend. Von Durchmesser, Länge und Form der Asbestfasern hängt ab, ob es zu einer Deposition in den peripheren Luftwegen oder den Alveolen kommt. Der weitaus größere Teil des eingeatmeten Staubes wird wieder ausgeatmet oder durch die physiologischen Reinigungsmechanismen der Atemwege und Lungen ausgeschieden. Ein Teil der jeweils in die Alveolen gelangten Fasern dringt in das Zwischengewebe der Lunge ein. Im Bereich der Alveolarsepten, perivaskulär und peribronchial kommt es zunächst zur interstitiellen Retention. Nur sehr kleinkalibrige und kurze Faserfraktionen sind auf dem Lymphwege transportfähig. Manche Asbestfaserarten, insbesondere Chrysotil, können im Gewebe Strukturveränderungen erfahren.
Der retinierte Asbeststaub kann zu Reaktionen vorwiegend in Bronchioli und im alveolären Interstitium führen. Bevorzugt in den unteren bis mittleren Lungenpartien entsteht ein diffuser, alveolarseptal bindegewebsbildender Prozeß mit starker Schrumpfungsneigung, die Asbestose (Asbest-Lungenfibrose). Mikroskopisch sind Asbestkörperchen nachweisbar. Hierbei handelt es sich um keulen- oder hantelförmige Gebilde, bestehend aus dem zentralen Achsenfaden, umgeben von mehr oder minder segmentierten eisen- und eiweißhaltigen Gelhüllen.
Eingeatmete und in das Zwischengewebe der Lunge vorgedrungene Asbestfasern besitzen aufgrund ihrer nadelförmigen Gestalt auch die Fähigkeit, bis in den Pleurabereich (Lungen- und Rippenfell) zu penetrieren.
Die Pleurotropie (Pleuradrift) kann sowohl zu einer Asbestfaseranhäufung im subpleuralen Bereich als auch zu einem Übertritt in den Pleuraspalt führen. Infolge der Pleuradrift entstehen oftmals diffus ausgedehnte oder umschriebene Bindegewebsneubildungen der Pleura, die der Asbestfibrose im Bereich der Lungen entsprechen. Sie stellen oft röntgenologische Zufallsbefunde dar. Die diffuse Bindegewebsneubildung bevorzugt meist doppelseitig die Pleura visceralis als diffuse Pleurafibrose des Lungenfells. Umschriebene, plaqueförmige Veränderungen manifestieren sich meist doppelseitig besonders an der Pleura parietalis als bindegewebige (hyaline), später verkalkende Pleuraplaques des Rippenfells, Zwerchfells oder Herzbeutels. Auch rezidivierende, meist einseitige Pleuraergüsse gehören zum Bild der nicht bösartigen, durch Asbeststaub verursachten Erkrankungen der Pleura, die sich von den Pleuratumoren (vgl. „Durch Asbest verursachtes Mesotheliom des Rippenfells und des Bauchfells“ Nr. 4105 Anl. 1 BeKV) abgrenzen lassen.
III. Krankheitsbild und Diagnose
Als erstes Zeichen einer Asbestose treten nach langsam progredientem Reizhusten Kurzatmigkeit, besonders bei Belastung und tiefer Inspiration, und Brustschmerzen auf. Später kommen nicht selten die Symptome einer chronischen Bronchitis, emphysematöse Lungenveränderungen und Rechtsherzhypertrophie (Cor pulmonale) hinzu. Auch der auskultatorische und perkutorische Befund ist uncharakteristisch. Er kann selbst bei fortgeschrittener Asbestose geringfügig sein. Als Hinweis auf eine Lungenfibrose gilt feines Knisterrasseln, besonders am Ende des Inspiriums, über den seitlichen und unteren Lungenpartien. Im Auswurf können sich Asbestkörperchen finden.
Das Ergebnis der Röntgenfilmaufnahme*) ist für die Diagnose entscheidend. Vornehmlich subpleural in den unteren zwei Dritteln der Lunge, mit meist zunehmender Intensität zu Basis und Hilus hin, finden sich kleine unregelmäßige (oder lineare) Schatten (ILO-Klassifikation: s-t-u). Sie können zunächst nebelschwadenförmig mit haarfeinen Randfiguren auftreten und sich später zu einer netzförmigen Zeichnungsvermehrung (ILO-Klassifikation: 1-2-3) bis zu diffusen fibrozystischen Veränderungen verdichten. Auch horizontal verlaufende Strichschatten (sog. KERLEY’sche „B“-Linien) nahe der lateralen Brustwand kommen vor. Mitunter erscheint die Fibrose entlang der Grenze des Herzschattens besonders ausgeprägt. In späteren Stadien können Herzgrenzen und die Zwerchfellkuppen verwaschen erscheinen und die Oberfelder vermehrt strahlendurchlässig werden.
*) Es wird empfohlen, bei der Diagnose im Röntgenbild die Internationale Staublungen-Klassifikation (ILO 80/BRD) anzuwenden (s. Anhang zum Merkblatt).
Als besondere, durch Asbeststaub verursachte, nicht bösartige Erkrankungen der Pleura sind bei geeigneter Röntgentechnik (Hartstrahl-Filmaufnahmen) anzusehen (vgl. auch Anhang „Hinweise zur Erstattung der ärztlichen Anzeige …“)
- die bindegewebigen (hyalinen) Pleuraplaques,
- die verkalkten Pleuraplaques,
- die diffuse Pleuraverdickung der seitlichen Brustwand (diffuse Pleurafibrose),
- der Pleuraerguß, auch ohne Lungenasbestose, insbesondere mit bindegewebigen-schwartigen, postpleuritischen Folgezuständen (Hyalinosis complicata).
Differentialdiagnostisch setzt die Annahme einer durch Asbeststaub verursachten Erkrankung der Pleura voraus, daß eine entsprechende Exposition bestand, die in der Regel zehn oder mehr Jahre zurückliegt und daß Hinweise auf andere, insbesondere tuberkulöse, traumatisch-entzündliche oder tumoröse Pleuraveränderungen nicht vorliegen. Bei starkem Übergewicht (Broca-Index 120 %) sind als Differentialdiagnose der asbestverursachten diffusen Pleurafibrose beidseitige, subpleurale Fetteinlagerungen zu erwägen. Hyaline und/oder verkalkte Pleuraplaques finden sich bevorzugt im Bereich der dorsalen Pleura. Charakteristisch sind Plaques der Pleura diaphragmatica, auch wenn sie einseitig vorkommen. Ihre Nachweismöglichkeit wird oftmals mittels zusätzlicher seitlicher Thoraxaufnahme verbessert. Noch häufiger als am Lebenden lassen sich Pleuraplaques autoptisch nachweisen. Durch Asbeststaub verursachte diffuse, plaqueförmige oder postpleuritische Pleuraveränderungen können allein oder nebeneinander vorkommen. Die gesundheitliche Beeinträchtigung infolge der durch Asbeststaub verursachten Erkrankungen der Lunge und/oder Pleura hängt vor allem von der Einschränkung der Lungenfunktion ab. Diese tritt vorwiegend als restriktive Ventilations- und/oder Gasaustauschstörung auf. Durch Asbeststaub verursachte Erkrankungen der Lunge und/oder Pleura kommen auch im Zusammenhang mit anderen Pneumokoniosen vor.
IV. Weitere Hinweise
Die Erhebung einer eingehenden Arbeitsanamnese ist erforderlich. Durch Asbeststaub verursachte Erkrankungen der Lunge und/oder Pleura treten im allgemeinen erst nach jahre- bis jahrzehntelanger Exposition gegenüber Asbeststaub auf. Eine Exposition – auch von wenigen Jahren – führt gelegentlich noch nach einer Latenz von Jahrzehnten zu einer Spätasbestose.
Röntgenologisch nachweisbare Veränderungen der Lungenasbestose können im Vergleich zu den bestehenden Funktionsstörungen der Atmung und des Kreislaufs relativ geringgradig sein. Eine überhäufige Assoziation von Asbestose und Lungentuberkulose ist bisher nicht erwiesen.
Bezüglich des Lungenkrebses in Verbindung mit Asbeststaublungenerkrankung (Asbestose) oder durch Asbeststaub verursachter Erkrankung der Pleura wird auf das Merkblatt zu BK Nr. 4104, bezüglich des durch Asbest verursachten Mesothelioms des Rippenfells und des Bauchfells auf das zu BK Nr. 4105 Anl. 1 BeKV verwiesen.
V. Literatur
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Anhang zum Merkblatt Nr. 4103 Anlage 1 BeKV
Hinweise zur Erstattung der ärztlichen Anzeige nach § 5 BeKV für die Berufskrankheit Nr. 4103 – Asbeststaublungenerkrankung (Asbestose) oder durch Asbeststaub verursachte Erkrankung der Pleura – der Anlage 1 zur Berufskrankheiten-Verordnung (BeKV):
Diese Hinweise wurden zur Erleichterung der Überlegungen, wann ein Arzt bei einem Versicherten nach Asbestexposition von einem begründeten Verdacht des Vorliegens der o.a. Berufskrankheit ausgehen kann, unter Mitwirkung medizinischer Sachverständiger erarbeitet. Sie sollen auf der Grundlage des amtlichen Merkblattes für die ärztliche Untersuchung zu der genannten Berufskrankheit allen Ärzten praxisgerechte Hinweise geben.
Auszugehen ist dabei von dem Röntgenbefund nach der ILO-Klassifikation 1980, wobei die Anfertigung der Lungenaufnahme in optimaler Hartstrahltechnik Voraussetzung ist.
Der Verdacht des Vorliegens einer Asbestose der Lungen ist
1. begründet bei:
Röntgenbefund der Lungen nach ILO-Klassifikation 1980 | Auskultations- bzw. Lungenfunktionsbefund |
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Dichte der Schatten | Form | |
a) 1/0 | s, t bzw. u | Knisterrasseln und/oder VKI 90% von VKS (nach EGKS Mindestsollwert unter BTPS-Bedingung) |
b) 1/1 u. mehr | s, t bzw. u | auch wenn klinisch keine Auffälligkeiten und keine Einschränkung der VKI meßbar ist |
2. nicht begründet bei:
Röntgenbefund der Lungen nach ILO-Klassifikation 1980 | Auskultations- bzw. Lungenfunktionsbefund |
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Dichte der Schatten | Form | |
0/1 | s, t bzw. u | mit Knisterrasseln |
0/1 | s, t bzw. u | mit VKI unter 90% von VKS |
1/0 | s, t bzw. u | ohne Befund |
(jedoch Notwendigkeit einer vorgezogenen nachgehenden Untersuchung) |
VKI: Vitalkapazität (Istwert) – VKS: Vitalkapazität (Sollwert) Der Verdacht des Vorliegens von durch Asbeststaub verursachten Veränderungen der Pleura („Pleuraasbestose“) ist begründet bei:
- Pleuraplaques (hyalin)
In der Regel ab ca. 3 mm Dicke röntgenologisch erkennbar und/oder einer Verbreitung von mehr als 2 cm Gesamtlänge im Bereich der Brustwand (insbesondere doppelseitig), des Zwerchfells, Mediastinums und/oder Herzbeutels.
Bei en face sichtbaren Pleuraplaques läßt sich eine Dickenangabe oftmals nicht vornehmen. - Pleuraplaques (verkalkt)
Bei Hinweisen auf Asbeststaubexposition(en) in der Vorgeschichte sollten auch Kalkplaques geringerer Dicke und Verbreitung angezeigt werden. - Hyalinosis complicata bzw. Pleuraerguß, Pleuritis mit Folgezuständen, ein- oder beidseitig
- Pleuraverdickung (doppelseitig diffus)
In der Regel ab 3 mm Dicke speziell im Bereich der Mittel- und Unterfelder.
Für die Differentialdiagnose in bezug auf die Asbeststaubgenese sind zu beachten
- Hinweise, insbesondere auf tuberkulöse oder Infarktpleuritis, traumatische, entzündliche, tumoröse oder sonstige pleurale Begleitprozesse.
- Auftreten oder wesentliche Zunahme der Befunde mehrere Jahre nach Beginn der Asbeststaubgefährdung.
(Bek. d. BMA v. 13.05.1991, BArbBl 7-8 / 1991 S.74)
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